Kunstkrankheiten

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Begriff

„Kunstkrankheit“ ist ein von Samuel Hahnemann geprägter Begriff, der innerhalb der homöopathischen Behandlungsmethode eine definierte Bedeutung hat.

Unterschiedliche Ursachen von Krankheiten (Differentialdiagnose)

[1]Hahnemann war der Medizin seiner Zeit in vielem voraus: Zum einen durch die von ihm entwickelte Homöopathie, die – erstmalig in der Medizin – ein nachvollziehbares, auf Erfahrung gegründetes und seit zwei Jahrhunderten immer wieder bestätigtes Therapiesystem (Ähnlichkeitsgesetz, Potenzierung, Arzneimittelprüfung am Gesunden) bietet. Zum anderen – was weniger bekannt ist – forderte Hahnemann, vor der Therapie die individuelle(n) Ursachen und Auslöser der jeweiligen Krankheit zu suchen.

Ausdrücklich unterschied er drei Gruppen von Krankheitsursachen:

  • Infektionen (= „natürliche“ Krankheitsursachen = „Miasmen“)[2]
  • Vergiftungen (= „Kunst-Krankheiten“) [3] und
  • krankmachende Lebensweise (= ein Zuviel oder ein Zuwenig lebensfördernder Maßnahmen: Nahrung, Bewegung, Schlaf, Arbeit …)[4]

Die Verletzungen seelischer oder körperlicher Art (Traumen) führen laut Hahnemann nur dann zur dauerhaften, chronischen Erkrankung, wenn der Mensch zuvor bereits an einer oder mehrerer der obigen drei Krankheitsursachen litt – was heutzutage eher die Regel ist.

Mit diesem differential-diagnostischen Ansatz lassen sich aus Sicht der Homöopathie – damals wie heute – sämtliche (!) Krankheiten ursächlich erklären, einschließlich der (epi-)genetischen, also der vererbten Krankheitsanlagen.

Jeder Ursachengruppe ordnet Hahnemann angemessene Therapieformen zu, und nicht in jedem Fall ist das die Homöopathie! So kann zwar ein infektionsbedingtes Rheuma durch Homöopathie ausheilen, ein giftbedingtes Rheuma hingegen erfordert toxikologische Maßnahmen. Die Ursachen-Diagnose entscheidet über die Therapiewahl!

Eine ähnliche Differenzierung wie Hahnemann nimmt auch die heutige Schulmedizin vor und kennt daher eigene Fachgebiete für Infektionen, für Vergiftungen (Toxikologie) sowie für Erbkrankheiten. Das Gros der übrigen, vor allem chronischen Krankheiten wird von ihr jedoch auf Organe oder (Immun-, Nerven-, Hormon-) Systeme reduziert, was sich vom wesentlich umfassenderen, ganzheitlichen Menschenbild Hahnemanns und der hiermit verbundenen Lebenskraft – nicht-materiell und den gesamten Organismus durchdringend – jedoch deutlich unterscheidet.

Vergiftungen („Kunstkrankheiten“)

Vergiftungen können akute und – wenn sie die Entgiftungsmöglichkeiten des Körpers überfordern – sogar bleibende (chronische) Beschwerden hervorrufen.

Für den Homöopathen sind Vergiftungen in dreifacher Hinsicht relevant:

  1. Homöopathische Arzneimittelprüfungen werden mit potenzierten, d. h. von materieller Giftwirkung befreiten Stoffen durchgeführt. Ergänzend nimmt die Homöopathie auch die in der medizinisch-toxikologischen Literatur beschriebenen schwerwiegenden, oft zum Tode führenden Vergiftungssymptome in ihre Arzneimittel-Sammlungen auf. Zu Hahnemanns Zeit stammten Gifte größtenteils noch aus der natürlichen Umwelt (Pflanzen, Tiere, Metalle). Ihre Wirkungen waren meist gut bekannt; sie wurden und werden heute noch in abgeschwächter, homöopathisch-potenzierter Form auch als Arzneien angewendet und zählen zu den wirkkräftigsten.
  2. Starke akute Vergiftungen sind in erster Linie strikt nach den Regeln der Toxikologie zu behandeln; deren Vorgehen ist:
    • Entfernung des Giftes: neutralisieren, erbrechen, abführen …
    • Verabreichung eines stofflichen Gegenmittels: Antidot, falls vorhanden. Homöopathie ist hier kontraindiziert!
  3. Chronische Vergiftungen verlaufen für den Betroffenen anfangs meist unbemerkt, sie entwickeln ihre Beschwerden eher schleichend, weswegen die Ursachensuche für den Behandler deutlich schwieriger wird: Das in Frage kommende Gift muss erst anhand der Symptome oder mittels spezieller Messungen (Tox-Screening: Speichel- / Bluttest, Staub- / Luftuntersuchung, Gewebeprobe)[5] aufwendig ermittelt werden.

Seit Hahnemanns Zeit sind Millionen künstlich hergestellter, chemischer Stoffe hinzugekommen, deren Vergiftungssymptome großenteils nicht bekannt sind und nicht selten erst nach Jahren und Jahrzehnten offensichtlich werden (z. B. Contergan). Die Nebenwirkungslisten heutiger schulmedizinischer Medikamente lassen ahnen, wie schädlich eine Überdosierung (akut) oder eine zu lange Einnahme (chronisch) sein kann.

Den Unterschied zwischen akuter und chronischer Vergiftung illustriert die Habersche Regel. Sie ist nur gültig für Summationsgifte (Kumulationsgifte), also für toxische Belastungen, die vom Organismus nicht hinreichend ausgeschieden werden können (z. B. Schwermetalle). Sie ist nicht anwendbar für Konzentrationsgifte im Niedrigdosisbereich (z.B. CO2 oder Spurenelemente):

Erläuterung: Eine kurze, aber starke Vergiftung (z. B. eine durchzechte Nacht) mit ihren Folgen (z. B. das Kater-Gefühl) zeigt der nach links oben gerichtete Teil der Kurve. Eine zwar niedrig dosierte, aber dafür kontinuierliche Giftaufnahme (z. B. durch Amalgamfüllungen) entspricht dem nach rechts gerichteten Teil der Kurve – auch sie wird aufgrund der Gifteinspeicherung nach gewisser Zeit ebenso in die Schädigung führen und je nach Veranlagung ihre speziellen Symptome entwickeln; bei Amalgam z. B. Hautausschläge, Gliederschmerzen, Depressionen …. Auch hier ist die toxikologische Behandlung jeder anderen Therapie unbedingt vorzuziehen:

  1. Entfernung der Vergiftungsquelle, sofern noch vorhanden, z. B. Amalgamsanierung unter Dreifach-Schutz: Kofferdam, Sauerstoff, Schutzbrille => als Alternative: Zemente, später Vollkeramik.
  2. Verringerung der Körperspeicher, z. B. bei Schwermetallen mittels so genannter Chelat-Bildner; das homöopathische Hepar sulfuris ist hier nicht ausreichend.
  3. Erst wenn damit kein Gift mehr ausscheidbar ist (Messungen im Urin, Stuhl), kann die Homöopathie – falls noch Restsymptome des Giftes vorhanden sind – gezielt eingesetzt werden zur Symptomlöschung bzw. zur Desensibilisierung gegen das ursprüngliche Gift.

Leider gibt es – anders als bei Schwermetallen – gegen die meisten chemischen Gifte der Neuzeit kaum spezifische Ausleitungs-/Entgiftungsverfahren. Hier greift die Toxikologie auf eher allgemeine immunstärkende, orthomolekulare Maßnahmen zurück, z. B. Alpha-Liponsäure, Glutathion, aber auch Vitalstoffe wie Vitamine, Mineralien und Co-Enzyme.

Die Kombination mehrerer relevanter Vergiftungen bei ein und derselben Person, z. B. Rauchen + Amalgam + Pille/Medikamente + Glyphosat/Pestizide … erschwert die Behandlung noch weiter.

Die Möglichkeiten der Homöopathie bei relevanten, v. a. chronischen Vergiftungen sind also äußerst begrenzt, was außer Hahnemann auch seine Zeitgenossen ähnlich sahen.[6]

Fußnoten

  1. Folgende Darstellung verfasst von Heinz Pscheidl
  2. Organon, 6. Auflage, insbesondere §§ 76, 78
  3. Organon, insbesondere §§ 74-76
  4. Organon § 77
  5. Siehe z. B. auch die beliebte Fernseh-Serie „Dr. House“, in der auf die toxikologische Abklärung großer Wert gelegt wird.
  6. C.v. Bönninghausen: » (Der Therapeut) ... erwägt, ob das Gift etwa in Substanz noch im Körper vorhanden sei und daher so schnell als möglich durch Ausleerungen fortgeschafft oder chemisch zersetzt werden muss, oder ob bloß eine dynamische Wirkung desselben auf den lebenden Organismus fortbesteht und zu vernichten ist. Die gleichsam mechanische Fortschaffung, so wie die chemische Neutralisierung der noch in Substanz vorhandenen Giftstoffe ist bei beiden Heilmethoden (Homöopathie und Allopathie) im Ganzen dieselbe und muss natürlich dieselbe sein, weil hier überall die Verfahrensweise auf Empirie gebaut ist. So wie man die Schmerzen im Auge durch einen fremden, dahineingeratenen Körper nicht eher heilen kann, bis dieser herausgeschafft ist, so ist es auch unmöglich, den Vergifteten wieder herzustellen, so lange das Gift in seinen Eingeweiden wütet. Ist nun die giftige Substanz nicht mehr als solche im Körper vorhanden, so bleibt doch fast immer eine dynamische Wirkung zurück ... Der Homöopath behandelt solche Gift- oder Arzneiwirkungen gerade wie jede andere dynamische Krankheit ... « (Die Homöopathie; 1834, S. 233ff)
    C. Hering: » ... gesetzt es wäre möglich, den Mercur (= Quecksilber) wieder so leicht herauszubringen, als es leicht ist ihn hineinzubringen, so würde doch der Eindruck bleiben, den er auf den Körper machte, gerade wie wenn man jemand einen Nagel ins Bein schlägt, und zieht ihn dann wieder hinaus, so bleibt ja doch das Loch, was er machte. ... Der zubereitete Mercur geht aber nicht so leicht wieder heraus, am allerwenigsten aber durch den Stuhlgang. Er verbreitet sich sogleich durch den ganzen Körper, geht in alle Säfte, in die Drüsen und in die Knochen hinein. Daher kommt es, daß diese langsamen Vergiftungen durch mercurhaltige Arzneien weit schwerer zu heilen sind, als irgendeine natürliche Krankheit; fast immer ist lange Zeit nötig, und in vielen Fällen ist garnichts möglich, als Linderung des Leidens.« (Homöopathischer Hausarzt; 1875, S. 65)
    J.C. Burnett: »Gold als Antidot gegen die krankmachenden Wirkungen von Quecksilber.
    Die immense Kraft und Allseitigkeit von Quecksilber bei Einführung in den lebenden Organismus sind der zivilisierten Menschheit mehr oder weniger bekannt. Für Jene, die es in hinreichend kleinen Mengen zu verwenden wissen, ist es als Arzneimittel nicht weniger kräftig und allseitig. Für die Schüler Hahnemanns gilt, je größer das Gift, desto größer die Arznei. Eine vollständige Symptomatologie von Mercurius würde ein dickes Buch mit kleiner Schrift füllen. Alle Autoritäten stimmen darin überein, dass Gold – chemisch gesehen – ein leiblicher Vetter von Quecksilber ist; ein Vergleich ihrer Pathogenese enthüllt den Fakt, dass sie es ebenso in physiologischer Hinsicht sind. Wenn die Wirkungen von Gold jenen des Quecksilbers ähnlich sind, müsste die Wirkung des einen das andere antidotieren. … Natürlich ist damit nicht gemeint, ein Fall akuter Vergiftung mit (Mercurius) Corrosivus Sublimatus solle mit massiven Dosen Goldchlorid behandelt werden; … Der hochgradige Kinderglaube, dass Homöopathie darin besteht, akute Vergiftungsfälle mit homöopathischen Arzneien zu behandeln, gleicht nur noch der ebenso netten Annahme, Homöopathie bedeute, Giganten mit infinitesimalen Mengen von Brotkrümeln aufwachsen zu lassen. Eine australische Größe hat kürzlich den Ursprung dieser Mär wieder neu entdeckt. Und er beschuldigt sogar einen wohlbekannten homöopathischen Autor (gemeint ist Burnett; Anm. d. Übers.) der Inkonsequenz, weil dieser in Vergiftungsfällen dieselbe Behandlung lehrt wie von den offiziellen Autoritäten der Toxikologie angegeben. .... Nichtsdestoweniger, selbst in akuten Fällen, nachdem das eingenommene Gift eliminiert worden ist, oder chemisch antidotiert oder auf chemischem Wege inert gemacht wurde, können die verbliebenden Symptome wahrlich erfolgreich mithilfe homöopathischer Potenzen gebessert werden. « (Gold als Arzneimittel, 1879; S. 141ff; Übersetzung: H. Pscheidl)